Agnes Henningsen (1868 – 1962)

 

Ein moderner Schüleraufsatz über das Verhältnis Kirks zu der Schriftstellerin Agnes Henningsen würde wohl das Wort „Fan“ enthalten. Über diese bürgerliche Autorin, deren literarische Heldinnen sich nahezu ausschließlich im bürgerlichen Milieu bewegten, fand Kirk stets nur überschwänglich lobende Worte, ihr Schaffen verfolgte er aufmerksam und wenn ein neues Buch von ihr erschien, so konnte man sicher sein, dass eine Rezension der Sonderklasse aus Kirks Feder folgte.

Was begeisterte den 30 Jahre jüngeren Kirk so sehr? Es dürfte zwei Gründe geben. Henningsens Frauengestalten ringen meist um ihre sexuelle Befreiung in einem engen bürgerlichen Lebensbereich, ihre Bücher sind ein Plädoyer für die körperliche Befreiung, für das Ausleben der erotischen Energien und damit ein Aufruf zur Sprengung der konservatorischen Mauern. In ihren voluminösen Erinnerungen steht irgendwo der richtungsweisende Satz: „Ich arbeite für die größtmögliche Freiheit in der Liebe, die ist leider mein einziges Fach“. Und Kirk war eben auch stark von der Psychoanalyse beeinflusst und die frühen sexualpädagogischen Schriften Wilhelm Reichs waren ihm wohl geläufig – zu auffällig sind die Parallelen in den großen Romanen. Die dann in den 30er Jahren im Sexpol-Verlag erschienenen Arbeiten über Arbeiteraufklärung, Verhütung, Psychoanalyse, Sexualpolitik, Materialismus und Klassenkampf kursierten in der linken Bewegung und dürften auch in der dänischen Intellektuellenszene nicht unbemerkt geblieben sein. Zumindest stimmte Kirk in der Grundthese mit Reich u.a. überein: Menschliche Emanzipation ist nur über die Beseitigung der sexuellen Zwänge und insbesondere über die Befreiung der Frau aus der tradierten gesellschaftlichen Rolle zu erreichen. Zwar widmete sich Agnes Henningsen diesem Problemkreis im rein bürgerlichen Milieu, doch weckte sie damit einen Drachen im Bauch des Leviathans, der diesen von innen aufzufressen vermag. Damit arbeitete sie mit anderen Mitteln und an anderem Ort am gleichen Ziel: der Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft. So schrieb er in einer Romanrezension: „Das Wertvolle an ihrer Autorschaft ist, dass sie im Protest gegen die bürgerliche Moral so stark die gesunde Animalität im Menschen hervorhebt und ihre Lebensanschauung und die kluge Menschenschau hin zur klassenlosen Gesellschaft weist.“ Und andernorts: „Es ist ein Missverständnis zu glauben, dass nur diejenigen Bücher, die eine bewusste politische Tendenz haben, von politischer Bedeutung seien … Darin liegt ihre Bedeutung, dass sie uns beharrlich darauf aufmerksam macht, dass die Voraussetzung für wirklichen Humanismus in der erotischen und intellektuellen Vorurteilslosigkeit liegt. In dieser gesunden und harmonischen Lebensweisheit gleicht sie keiner skandinavischen Verfasserin, sondern am meisten der sowjetrussischen Autorin Kollontai.“[1]

Aber auch stilistisch konnte Kirk von ihr lernen und tat das wohl auch. Die Autorin wählte oft eine bewusst simplifizierte und grammatisch fragwürdige Sprache als genuines Ausdrucksmittel und nach diesem Rezept sind wesentliche Passagen seiner großen Romane verfasst, dieses stilistische Mittel nutzte Kirk, weit über die rein naturalistischen Varianten hinaus, zur Perfektion in „Die Fischer“, „Die Tagelöhner“ und „Die neuen Zeiten“.

©Text und Übersetzungen Jörg Seidel

Literatur:

Morton Thing: Hans Kirks mange ansigter. En biografi. København 1997



[1] Zitate aus: Morton Thing, S. 202 f.

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